Wie ein mann das unmögliche schaffte
Ein norwegischer Entdecker stellte sich in einem winzigen Boot einer der grössten Herausforderungen der Natur und durchquerte als erster die Nordwest-Passage.
SUSAN GOUGH-HENLEY
Die Nordwest-Passage, die sich über 1.450 Kilometer von der kanadischen Baffininsel im Osten bis zur Beaufortsee in Alaska im Westen erstreckt, ist eine abgelegene, eisige Grenzlandschaft, die vollständig über dem Polarkreis liegt.
400 Jahre lang war die Durchquerung dieser Passage am Ende der Welt eine der grössten Herausforderungen für europäische Entdecker. Eine Kartierung des Seewegs zwischen Atlantik und Pazifik versprach schnellere Handelsrouten nach Asien und damit grosse Reichtümer. Doch der hohe Norden des amerikanischen Kontinents ist ein tückisches Gebiet mit extremen Wetterbedingungen, riesigen Eisbergen und weiten Flächen treibenden Meereises, in denen Schiffe jahrelang festsitzen können. Viele haben es versucht, und alle ausser einem scheiterten. Manche verschwanden spurlos.
Ein aussichtsloses Unterfangen?
Da war zunächst der aus England stammende venezianische Seefahrer Giovanni Caboto (John Cabot), der 1497 als erster Europäer den Eingang zur Nordwest-Passage erkundete. Ein Jahr später verschwanden er und seine Besatzung spurlos. In den 1530ern kartierte der französische Entdecker Jacques Cartier den Sankt-Lorenz-Golf – aber nicht die Nordwest-Passage. Im frühen 17. Jahrhundert wurde dann der englische Entdecker Henry Hudson von der Niederländischen Ostindien-Kompanie angeheuert, um den atlantischen Eingang zur Nordwest-Passage zu finden. Er entdeckte den Hudson River, an dessen Mündung später New Amsterdam – das heutige New York City – entstehen sollte, und er segelte in die kanadische Husdson Bay, wo sein Schiff vom Eis eingeschlossen wurde. Seine Besatzung meuterte und setzte ihn in einem kleinen Boot aus, woraufhin er nie wieder gesehen wurde.
In den folgenden zwei Jahrhunderten gab es viele weitere Versuche, und zwar an beiden Enden der Passage. Der englische Entdecker William Baffin war nahe dran, als er 1616 den eisbedeckten Eingang zum Lancaster Sound erkundete. Der dänische Entdecker Vitus Bering erforschte das andere Ende der Nordwest-Passage. Er segelte vom Nordpazifik in den Arktischen Ozean, kam aber 1741 zu Tode, als sein Schiff auf der heutigen Beringinsel Schiffbruch erlitt. Bei seiner ersten Expeditions in die Nordwest-Passage 1819-20 fand der walisische Forscher William Edward Parry einen Weg durch den Lancaster-Sund, wurde jedoch vom Meereis eingeschlossen und musste zehn Monate im Winterhafen auf Melville Island verbringen.
Der englische Royal-Navy-Offizier Sir John Franklin führte 1845 die bis dahin grösste Expedition zur Nordwest-Passage an, doch auch für ihn bewahrheitete sich der Ruf der Passage als verhängnisvolles Abenteuer. Er verliess London mit zwei Schiffen, der HMS Erebus und der HMS Terror, beladen mit den neuesten technischen Erfindungen sowie enormen Mengen an Lebensmitteln, Büchern und 128 Männern. Jahre vergingen, und man verlor mehr und mehr Männer, wahrscheinlich an Hunger, Unterkühlung und Krankheiten, nachdem sie ihre im Eis eingeschlossenen Schiffe verlassen hatten. Obwohl die Suchtrupps, die ausgesandt wurden, um Franklins Expedition zu finden, scheiterten, trugen sie wesentlich zur Kartierung der arktischen Wasserwege bei, die als Nordwest-Passage bekannt werden sollten.
Und dann kam der Norweger
Am Ende war es ein fast mittelloser norwegischer Arktisforscher in einem gebrauchten Fischerboot, der die Passage bezwang.
1905, in dichtem Nebel und umgeben von Eisschollen, war Roald Amundsen, der von Kopf bis Fuss in Inuit-Rentierhäute und Felle gehüllt war und mit grimmiger Entschlossenheit das Ruder der Gjøa umklammerte – eine winzige 21 Meter lange Schaluppe mit einer Besatzung von nur 6 Männern – der erste Mensch, der die Nordwest-Passage durchfuhr.
Amundsen und seine Mannschaft verliessen Oslo im Juni 1903 und verbrachten zwei Winter in Gjøa Haven auf King William Island, wo sie wissenschaftliche Messungen durchführten und nachwiesen, dass sich der magnetische Nordpol bewegte. Im August 1905 stach die Mannschaft erneut in See und fuhr durch die beschwerliche Meerenge südlich der Victoria-Insel nach Westen. Einige Tage später trafen sie auf ein Walfangschiff aus San Francisco, das in die entgegengesetzte Richtung fuhr, und Amundsen war sich sicher, dass er es schaffen konnte, die Nordwest-Passage zu durchfahren. Nachdem er einen weiteren Winter in den gefrorenen Gewässern abgewartet hatte – und knapp 805 Kilometer nach Eagle, Alaska, auf Skiern zurückgelegt hatte, um der Welt telegrafisch seinen Triumph mitzuteilen – segelten Amundsen und seine Mannschaft im August 1906 weiter nach Nome an der Pazifikküste Alaskas.
Der Schlüssel zum Erfolg
Warum war Amundsen erfolgreich, dort wo viele andere gescheitert waren? Amundsen, der sich seit seiner Kindheit für die Erforschung der Arktis begeisterte, sammelte wichtige Erfahrungen auf einer belgischen Arktis-Expedition und baute dann seine Schaluppe auf Anraten von Seeleuten für die arktischen Bedingungen um. Er wählte eine kleine, spezialisierte Mannschaft aus und, was vielleicht am wichtigsten war, er nahm Kontakt zu den örtlichen Inuit auf. Während er an dem Ort, der heute als Gjøa Haven bekannt ist, vor Anker lag, lernte er ihre Sprache und eignete sich Fähigkeiten an, die für das Überleben in den harschen arktischen Bedingungen unerlässlich waren – wie zum Bespiel die Robbenjagd, der Umgang mit dem Hundeschlitten, das Bauen von Iglus und die Nutzung von Fellen als Kleidung.
Wie sich herausstellte, hätten grössere Schiffe niemals Amundsens genaue Route nehmen können, da das Wasser an manchen Stellen kaum einen Meter tief war. Eine Passage für die kommerzielle Schifffahrt blieb lange Zeit undenkbar. Ein Jahrhundert später meldete die Europäische Weltraumorganisation, dass die Nordwest-Passage im Jahr 2007 zum ersten Mal eisfrei war. Nun konnten die ersten Expeditionsschiffe mit modernen Entdeckern von Grönland nach Alaska starten und versuchen, den Spuren Amundsens zu folgen.
Auf dem Weg in Richtung Zukunft
Heute ist die bahnbrechende Roald Amundsen von Hurtigruten Expeditions das erste Hybrid-Expeditionsschiff der Welt, das die Nordwest-Passage durchfährt. Die Expeditionsschiffe Fram, Fridtjof Nansen und Roald Amundsen bieten nicht nur abenteuerliche Routen durch die Arktis, sondern auch in der Antarktis und folgen damit den Spuren der Pioniere von einst in die entlegensten Regionen der Welt.
Roald Amundsen übertraf seinen Triumph bei der Nordwest-Passage, indem er mit dem Polarschiff Fram seines norwegischen Kollegen Fridtjof Nansen in die Antarktis segelte, wo seine fünfköpfige Gruppe am 14. Dezember 1911 als erste den Südpol erreichte. Sie trugen Kleidung aus Wolfspelzen, die von den Inuit entworfen worden war. Wer in diese Fussstapfen treten will, hat einen harten Weg vor sich.