Rund um den Archipel
Obwohl diese Australierin bereits seit 12 Jahren in Spitzbergen lebt, sorgen die überwältigenden Dimensionen ihrer Wahlheimat bei ihr noch immer für ungläubiges Erstaunen. Besonders, als sie an der Umrundung Spitzbergens mit MS Fram teilnimmt.
ANIKA PAUST
Das Leben in Longyearbyen ist einzigartig – so angenehm und so anders als überall sonst auf der Welt. Der besondere Reiz liegt in der Einfachheit. Wir haben nur ein Lebensmittelgeschäft, sodass Sie nie irgendwelchen Sonderangeboten hinterherjagen oder sich fragen, wo man am besten seine Milch kauft. Viele Dinge, die anfangs noch verblüffend sind, werden mit der Zeit normal, wie zum Beispiel der Anblick einer Mutter, die einen Kinderwagen über die Straße schiebt – mit einem Großkalibergewehr über der Schulter. Manchmal jedoch kann man die Dinge auch mit neuen Augen sehen und sich daran erinnern, wie besonders sie sind.
Es ist Mitte Juni und ich fahre die fünf Kilometer zum Flughafen, dem nördlichsten Flughafen für Linienflüge auf der ganzen Welt. Heute ist kein gewöhnlicher Tag – es ist der Beginn meiner Sommerferien, obwohl die 6 °C, die mir mein Armaturenbrett anzeigt, meinem australischen Herzen gewisse Schwierigkeiten bereiten, diese Jahreszeit als Sommer zu akzeptieren. Wir haben bereits zwei Monate mit langen Abenden im Schein der Mitternachtssonne hinter uns, aber die schneebedeckten Berge und der Anblick der Gletscher in der Ferne wollen für mich einfach nicht so richtig zur Jahreszeit passen. Und dennoch werde ich dieses Jahr nicht nach Süden in die Wärme fahren. Ich werde nicht einmal Spitzbergen verlassen. Stattdessen bekomme ich Besuch von einer alten Freundin aus Australien und wir werden gemeinsam an einem Versuch teilnehmen, den gesamten Archipel zu umrunden.
Der Weg an Bord
Ich stehe in der Ankunftshalle des Flughafens und schaue etwas verwundert auf den Eisbären inmitten der Gepäckausgabe. Plötzlich höre ich, wie jemand meinen Namen ruft, und drehe mich um, als meine Freundin auch schon mit ausgestreckten Armen und einem ungläubigen Lächeln im Gesicht auf mich zustürzt. „Du hast mir nie erzählt, dass der Flug landschaftlich so reizvoll ist“, sagt sie in fast anklagendem Tonfall. In Gedanken lasse ich die Bilder von meinem letzten Flug Revue passieren – die hoch aufragenden Berge, die blau-weißen Gletscherzungen, die Formationen aus Schnee und Stein – und lächle verlegen. „Naja, man hat sich irgendwann daran gewöhnt“, antworte ich.
Wir fahren zurück in die Stadt über die Hauptstraße, die am Ufer des Adventfjords entlangführt. „Wie schaffst du es, nicht von der Straße abzukommen?“, fragt meine Freundin mich. Ich dachte erst, sie meinte damit den dürftigen Zustand der Straße, aber sie zeigt nur nach links und nach rechts: „Die Berge, der Fjord … es ist unglaublich!“
Am nächsten Tag gehen wir an Bord von MS Fram. Das Schiff im Hafen zu sehen, ist für mich inzwischen ein normaler Anblick geworden, aber ich spüre, wie meine Aufregung wächst, während ich an Bord gehe. Ja, dieses Mal gehe ich tatsächlich mit den anderen Passagieren an Bord, anstatt ihnen nur zum Abschied zuzuwinken. Als wir die Rezeption erreichen, grinsen wir wie zwei Honigkuchenpferde.
Die nächste Stunde vergeht wie im Flug – wir bringen das Gepäck in unsere Kabine, werfen einen Blick aus dem Fenster auf Longyearbyen und gehen zur obligatorischen Sicherheitseinweisung. Später, als wir beim Abendessen am Tisch sitzen, sagt meine Freundin zu mir: „Sieh mal, ich habe gar keinen Handy-Empfang!“ Sie wirkt etwas beunruhigt darüber, plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten zu sein.
Blick auf die Mitternachtssonne
Nach dem Abendessen haben wir nichts Eiligeres zu tun, als auf das Oberdeck zu kommen und uns an die Reling zu stellen, um zu beobachten, wie meine vertraute Welt langsam in der Ferne verschwindet. Dann suchen wir uns ein gemütliches Plätzchen in der Explorer Bar in der Nähe der Panoramafenster, wo wir bis spät in die Nacht über Gott und die Welt reden und im warmen Licht der Mitternachtssonne nach Walen Ausschau halten.
Am nächsten Morgen wachen wir im Kongsfjord auf. Ich fühle mich zunächst ein wenig desorientiert, weil ich vor dem Fenster eine Reihe hoch aufragender Berge sehe, die mir unbekannt sind, aber dieses Gefühl vergeht sehr schnell, da die freudige Erregung meiner Freundin ansteckend auf mich wirkt: „Da sind ja Eisberge auf dem Wasser!“ Ich schlage vor, erst einmal zum Frühstück zu gehen, aber am Ende einigen wir uns auf einen Kompromiss – wir gehen bereits mit Mänteln und Kameras ausgestattet ins Restaurant, um nach dem Frühstück keine Zeit zu verlieren und den Vormittag möglichst intensiv zu nutzen.
Die Luft an Deck ist frisch und klar. Einige Vögel versuchen alles, um unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber wir sind vollauf damit beschäftigt, die komplexen Eisformationen auf dem Wasser bestmöglich mit unseren Kameras einzufangen. Eine Durchsage über die Lautsprecheranlage des Schiffes reißt uns jäh aus unseren Träumen. Schnell eilen wir die Treppe hinunter, um zu der uns zugewiesenen Gruppe für unsere erste Exkursion zu gelangen: ein Ausflug in ein verlassenes Bergbau-Camp, in dem ein eigensinniger Australier einst versuchte, tief unter der gefrorenen Tundra Marmor abzubauen. Diese unglaubliche Geschichte ist ebenso faszinierend wie die Landschaftspanoramen, die uns umgeben. Ein furchtloser Polarfuchs läuft vor uns her und unser Guide erzählt uns die Geschichte eines markierten Fuchses, der von Spitzbergen bis nach Grönland gelaufen ist. Ich denke darüber nach, was er alles in der endlosen arktischen Wildnis gesehen haben muss.
Eine Wildnis voller Tiere
Die Tage inmitten von Bergen und Walen, Gletschern und Rentieren vergehen wie im Flug. Irgendwann fragt meine Freundin mich, ob dies alles noch „normal“ für mich sei. Und ich muss zugeben, ich sehe meine arktische Heimat von einer ganz neuen Seite. Auf dem Weg in den äußersten Norden von Spitzbergen, etwa bei 80° nördlicher Breite, bereiten wir uns auf einen weiteren Landgang vor. Doch als wir uns dem Land nähern, wird mir klar, dass wir nicht in Richtung Strand fahren. Der Bootsfahrer zeigt auf etwas und 16 Augen folgen der Richtung, in die er zeigt.
Oben auf einem Hügel erblicken wir die Silhouette eines mächtigen Eisbären. Der Bär überblickt beiläufig das Gebiet und scheint sich der Wirkung, die er auf die nur wenige hundert Meter entfernten Besucher ausübt, gar nicht bewusst zu sein. Alle Exkursionsmitglieder starren ihn wie gebannt an und auch ich verspüre die gleiche Ehrfurcht wie meine Mitreisenden, während wir den König der Arktis mit unseren Blicken verfolgen. Ich denke nicht einmal daran, nach meiner Kamera zu greifen. Eine knisternde Durchsage ertönt über das Radio: „Eisbär am Anlandungsplatz. Wir gehen über zu Plan B.“
Als wir uns von dem Eisbären abwenden und an einer Wand aus glitzerndem Eis vorbeigleiten, fliegen einige Vögel um uns herum auf und mir wird klar, dass ich absolut jeden Plan B kennenlernen, alle Orte sehen und meine Insel immer wieder aufs Neue erkunden möchte.
Ich habe nun 12 Jahre in der Arktis verbracht und doch bin ich von Neuem erstaunt über die unberührte Schönheit von Spitzbergen. In ein paar Monaten wird die Sonne am Horizont verschwinden. Dann werden Nordlichter und Schnee die sich immer wieder aufs Neue verändernde Landschaft dominieren. Und ich höre mich selbst meine Freundin fragen: „Hast du schon Pläne für deinen nächsten Urlaub?“
Spitzbergen ist ein Archipel norwegischer Inseln, die genau zwischen dem europäischen Festland und dem Nordpol liegen. Hurtigruten hat zahlreiche Expeditionsreisen nach Spitzbergen im Angebot. Interesse? Unsere Hurtigruten Experten können Ihnen mehr über die verschiedenen Optionen sagen und Ihnen dabei helfen, Ihr nächstes unvergessliches Abenteuer bei uns zu buchen.