Eine Insel wie ein Schatz
Sie ist alles andere als tropisch, aber es gibt gute Gründe diese wilde, abgelegene Insel ins Herz zu schließen.
TEXT VON JOCELYN PRIDE
Rostfarbene Felsen dominieren die Landschaft. In der Ferne schlängelt sich ein ausgetrocknetes Flussbett durch Berge, die wie Reihen von bärtigen Gesichtern aussehen, die durch die Wolken lugen. Es fühlt sich an, als wäre ich auf einem anderen Planeten gelandet. Doch der Eindruck trügt: Ich betrachte vielmehr die Seele und das Wesen unserer Erde.
In der Hochebene des Gros-Morne-Nationalparks im kanadischen Neufundland, der zum UNESCO-Weltnaturerbe gehört, ist ein geologisches Phänomen zu bestaunen: ein Stück des ehemaligen Meeresbodens, das durch eine Kontinentalverschiebung vor Millionen von Jahren nach oben gedrückt wurde.
Neufundland, das sich aus dem Nordatlantik erhebt, bildet zusammen mit seinem Gegenüber auf dem Festland, Labrador, die östlichste Provinz Kanadas. Neufundland belegt Platz 16 in der Rangliste der größten Inseln der Welt, hat eine Bevölkerung von rund einer halben Million Einwohnern und ist geprägt von einer schroffen, zerklüfteten Landschaft, die von der stürmischen See umspült wird. Eisberge von der Größe ganzer Wohnblocks treiben im Sommer mit den Gezeiten langsam von Grönland herunter. Im Landesinneren wimmelt es in den dichten borealen Nadelwäldern von Elchen, Karibus, Luchsen und Kojoten.
Entlang der fast 30.000 Kilometer langen Küste versammeln sich jeden Sommer Hunderttausende von Papageientauchern – dem offiziellen Vogel der Provinz – und anderen Seevögeln, um auf den Felsen zu brüten. In ruhigen Fischerdörfern stricken die Menschen Socken und nähen Patchworkdecken, die sie an Wäscheleinen vor ihren Cottages aufhängen, um sie zu verkaufen.
Und dann ist da noch St. John's, die Hauptstadt, berühmt für ihre farbenfroh gestrichenen Holzhäusern und den Blick auf den hübschen Hafen. Mit seiner 500 Jahre alten Geschichte und etwas mehr als 100.000 Einwohnern wirkt St. John's wie eine Mischung aus San Francisco und einem englischen Dorf: eine perfekte Kombination von Atmosphäre und Charme. Man kann zu Fuß gehen (wenn einem die Hügel nichts ausmachen) oder mit dem Auto fahren (wenn man gut einparken kann), es gibt gute Restaurants, eine blühende Musik- und Kunstszene, Museen, Wanderwege und ein bezauberndes Dorf namens Quidi Vidi (ausgesprochen Kiddy Viddy) in der Nähe.
„Das kriegen wir hin"-Mentalität und bewährte Überlebenstechniken
Trotz all der wunderbaren Naturlandschaften sind es die Menschen selbst, die mich immer wieder in diese faszinierende Provinz ziehen.
Es sind starke Menschen mit offenen Herzen und einem melodischen Akzent, die Gedichte rezitieren, Lieder singen und Geschichten flüstern, die Sie zum Lachen und Weinen bringen können. Sie haben sich von ihren Vorfahren inspirieren lassen, die zukunftsgewandt und optimistisch den Weg von Irland, Wales, England, Schottland und Frankreich auf sich genommen haben, um in Gewässern zu fischen, die so reich an Kabeljau sind, dass man „über die Fische laufen könnte, um das Festland zu erreichen."
Die Gründerin Zita Cobb, eine Fogo-Insulanerin in der achten Generation, wuchs mit den Fischereigeschichten ihrer Vorfahren auf. Doch als die Kabeljauindustrie in den 1960er Jahren am Boden lag, verließ ihre Familie, wie viele andere auch, die winzige Insel vor der Nordostküste Neufundlands.
40 Jahre später ist Zita zu ihren Wurzeln zurückgekehrt und hat eines der eindrucksvollsten Gebäude der Welt geschaffen. Das Fogo Island Inn schmiegt sich an die Felsen, umgeben vom aufgewühlten Meer. Es wurde als gemeinnützige Stiftung gegründet – 100 Prozent der Betriebsüberschüsse des Gasthauses gehen zurück an die Bewohner der Fogo-Inseln – und alles hier beruht auf ethischen Werten und Nachhaltigkeit.
Mit dem europäischen Erbe von Neufundland und Labrador verwoben ist der Einfluss der First Nations und der nordischen Wikinger.
Seit Jahrhunderten ziehen die Innu, Inuit (Labrador) und Mi'kmaq (Neufundland) durch die Provinz. In einer Umgebung, in der das Überleben davon abhängt, das Land „Lesen“ zu können, werden ihre Fertigkeiten verehrt. Hier können Sie an Bord einer traditionellen Dory lernen, wie man Kabeljau fängt, mit einem indigenen Tourguide eine Wanderung in einem der Nationalparks unternehmen oder auf eine Hundeschlittentour gehen.
Jeder liebt eine gute Wikingergeschichte, und auf Neufundland können Sie eine ganz besondere Geschichte hören. L'Anse aux Meadows ist eine UNESCO-Welterbestätte an der nördlichsten Spitze von Neufundland – genau der Ort, an dem die Norweger vor rund 1.000 Jahren anlandeten. Norwegische Archäologen bestätigten in den 1960er-Jahren, dass die Wikinger bereits Hunderte von Jahren vor Christoph Kolumbus in Nordamerika gelandet sind und brachten damit die Geschichtsbücher durcheinander.
Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft
Als am 11. September 2001 mehr als 6 500 Passagiere und Besatzungsmitglieder von 38 Flugzeugen in dem kleinen Städtchen Gander landeten, konnte niemand vorhersehen, was geschehen würde. Die ganze Welt war in Aufruhr und man wusste nicht, ob sich an Bord weiterer Flugzeuge nicht möglicherweise mehr Bomben befanden, doch die Einwohner von Gander und der umliegenden Dörfer begegneten den gestrandeten Passagieren mit Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Sie riefen für fünf Tage den Notstand aus und versorgten, beherbergten, kleideten und trösteten die aus 93 Ländern stammenden "Flugzeugleute".
Auch 20 Jahre später verbreitet die Geschichte weiterhin Freude – durch das weltweit erfolgreiche Musical „Come from Away“. Dank des Erfolgs des Musicals hat der Tourismus in der Gegend zugenommen, aber die Einwohner von Gander bleiben ihrer bescheidenen Art treu.
In den Worten von Diane Davis, einer der Figuren aus dem echten Leben, die in dem Musical dargestellt werden: "Niemand hat etwas Außergewöhnliches getan. So sind wir Neufundländer nun einmal. Wir trösten und kümmern uns – das liegt in unserer Natur. Jeder ist hier willkommen."